Im Gegenwind
Gutachten über Wert und Schutzwürdigkeit des Ortsbildes von Wangen/Bodensee.
Da das Landesdenkmalamt in Baden-Württemberg im Verfahren nur beratende Stimme hat, ziehen die Kläger als Sachverständigen den Schweizer Denkmalpfleger Albert Knoepfli zu Rate, der als Professor an der ETH Zürich lehrt. »Als Verfasser der ›Kunstgeschichte des Bodenseeraumes‹ sind Sie der anerkannte Experte für Fragen des Denkmalschutzes und der Stadtbilderhaltung im Bodenseeraum«, so umwirbt ihn Rechtsanwalt Dietrich.
23. September 1975, Leser schreiben dem Südkurier:
»Berauben Technokraten Wangen all seiner Schönheit?«
»Bezeichnenderweise wurde vom Bürgermeister kein Wort über die Erhaltung des Dorfbildes gesagt, was ein sehr wichtiger Faktor ist; wenn er den Fremdenverkehr fördern will, so muss er darauf bedacht sein, für das Ortsbild etwas zu tun. Das wird ihm aber nicht mit 11 bis 21 Meter breiten Asphaltbahnen, zerstörtem Dorfbrunnen, zerstörter Grünfläche, abgebrochenem Kriegerdenkmal, gefälltem Baum, sozusagen mit einem radikalen Kahlschlag mitten im Ort gelingen.«
Gert Wolf u.a. gegen das Land Baden-Württemberg. Klagebegründung von Rechtsanwalt Anselm Dietrich
Die Kläger haben es geschafft: Ausbau der Ortsdurchfahrt Wangen in »ansprechender und vor allem in verkehrsberuhigender Weise«, Herbst 1991
Wer ist eigentlich Gert Wolf?
Von Anfang an hat das zweite Kind von Nathan und Auguste Wolf das Reden in Familiendingen seiner älteren Schwester überlassen, und über die Jahrzehnte hinweg bleiben die Rollen dabei klar verteilt: sie erzählt, er hört zu. In ihren Erzählungen ist der Bruder die emotional bedeutsame Konstante, der schweigende Sekundant im Hintergrund, der Hüter der Familien-Fotografien. Anders als seine Schwester hat Gert Wolf die Heimatgemeinde nur für das Studium der Zahnmedizin und erste Berufserfahrungen verlassen. Von ihr zeitlebens darum beneidet, lebt er noch heute im Dorf.
In seinem beharrlichen politischen Engagement kommt er auf den Vater. Jahrzehntelang engagiert sich Gert Wolf als Ortschafts- und Gemeinderat, er gehört zum Urgestein der grünen Partei, die er auf Kreisebene mitbegründet. Schon früh, als dazu noch Mut gehört, verficht er ökologische Prinzipien mit Leidenschaft.
So auch beim Engagement gegen den Ausbau der L 192, die als Hauptstraße durch Wangen führt und zu Beginn der siebziger Jahre nach den damaligen Standards überplant wird. In den autoseligen Siebzigern kennt der Straßenbau nur eine Maxime: Freie Fahrt für freie Bürger! Selbst im kleinsten Dorf sollen dafür Häuser und Bäume weichen, Kurven begradigt, Abbiegespuren eingerichtet und die Straßen verbreitert werden. Natur- und Landschaftsschutz sind noch neue Vokabeln ohne nennenswertes Potenzial; und das Denkmalamt, das in seiner Stellungnahme die Spaltung des Dorfes durch die überdimensionierte Straße befürchtet, hat in Baden-Württemberg nur beratende Stimme.
Als Anlieger der Wangener Hauptstraße, der durch Grundstücksabtretungen betroffen und damit überhaupt erst klageberechtigt ist, kämpft Gert Wolf zusammen mit seiner Schwester und einer weiteren Partei durch drei Instanzen gegen die überzogene Planung. Vom Singener Rechtsanwalt Anselm Dietrich so klug wie zäh begleitet, gelingt es den Klägern in einem über anderthalb Jahrzehnte geführten Rechtsstreit, ihre Sicht der Dinge schließlich durchzusetzen.
1977 lassen sie ein Gutachten über Wert und Schutzwürdigkeit des Ortsbildes erstellen und beauftragen ein zweites Gutachten bei einem Ingenieurbüro für Verkehrswesen, das die Überdimensioniertheit der kritisierten Straßenplanung herausarbeitet. Gert Wolf zählt Autos, fotografiert Kurvenradien andernorts und hält seine Schar der Aufmüpfigen auch nach der Niederlage vor dem Verwaltungsgericht Freiburg im September 1978 beisammen. Er glaubt einfach daran, dass er die besseren Argumente auf seiner Seite habe – und die Zeit arbeitet für ihn.
In der dritten Instanz erkennt das Bundesverwaltungsgericht im Mai 1983 die Rechtmäßigkeit der beantragten Revision an: ein Bürger habe Eingriffe in sein Privateigentum nur dann hinzunehmen, wenn auch die Abwägung öffentlicher Belange zuvor fehlerfrei stattgefunden habe – dies sei in Wangen nicht geschehen. Erst in diesem Moment verfängt die Argumentation der Kläger, die von Anfang an die Zerstörung des historisch gewachsenen und bedeutsamen Ortsbildes durch die geplante Neutrassierung und Aufweitung der Straße moniert hatten. Rechtsanwalt Dietrich stellt die Auswüchse der Planung in seiner Revisionsbegründung so dar:
Die angefochtene Planung sieht im Ortskern von Wangen vor dem Anwesen der Kläger einen Ausbau der bisher etwa 6 m breiten Fahrbahn […] auf eine durchschnittliche Fahrbahnbreite von 11 m vor. Der bisher geschlossene Straßenraum […] wird durch den geplanten Abbruch des aus dem Jahre 1845 stammenden ehemaligen Schulhauses und durch den Abbruch des […] Anwesens Trüb zerstört. Den stärksten Eingriff […] stellt jedoch die Neutrassierung und Nordwestverschiebung der L 192 im Bereich des Anwesens Trüb dar. […] Da gleichzeitig eine neue Linksabbiegespur zum Campingplatz im Bereich der lang gezogenen Rechtskurve der L 192 geplant ist, würde unmittelbar östlich der Hausgrundstücke der Kläger eine etwa 33 m breite Verkehrsfläche entstehen.
Außergerichtlich einigten sich die beiden Parteien im Lauf der nächsten Jahre auf eine Straßenplanung, die sämtliche kritischen Einwände der Kläger berücksichtigt. Rechtsanwalt Dietrich frohlockt: »Offensichtlich hält auch das beklagte Land seine ursprüngliche Planung nunmehr für fehlerhaft.«
Als im Oktober 1992 schließlich die »in ansprechender und vor allem in verkehrsberuhigender Weise« sanierte Ortsdurchfahrt eingeweiht werden kann, feiern alle Beteiligten das Ergebnis.
Gert Wolf und seinen Mitstreitern ist zu verdanken, dass Wangen heute nicht wie andere Höri-Dörfer durch eine überdimensionierte Straße in zwei Hälften zerschnitten ist. Der behutsame Ausbau der Wangener Hauptstraße wird zum Modell für die Nachbargemeinde Gaienhofen.
Im Oktober 1992 wird der jüdische Friedhof von Wangen verwüstet, 17 Grabsteine werden umgeworfen, darunter auch der Grabstein von Nathan Wolf. Mit einer Anzeige im Südkurier suchen Hannelore König und Gert Wolf nach den Tätern. Die werden rasch gefunden und in Konstanz vor Gericht gestellt.
Hannelore König beantragt ihre Zulassung als Nebenklägerin: