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Zusammenstellung der Daten nach der Akte Nathan Wolfs im Staatsarchiv Schaffhausen  [Flüchtlinge B, Wolf, Nathan, Dr. med. 1882]

Zusammenstellung der Daten nach der Akte Nathan Wolfs im Staatsarchiv Schaffhausen
[Flüchtlinge B, Wolf, Nathan, Dr. med. 1882]

Der Fluchthelfer

 

Nathan Wolf ist einer von 11 jüdischen Flüchtlingen, die 1939 im Kanton Schaffhausen die Schweizer Grenze erfolgreich passieren – und nicht »zurückgestellt« werden. Als die Behörden wenige Tage nach seiner Ankunft doch noch eine »Wegweisungsverfügung« aussprechen, ergreifen seine einflussreichen Freunde für ihn Partei: ein Stadtrat, zwei Ständeräte, ein Kantonsrat und schließlich, als gewichtigste Stimme, der Stadtpräsident von Schaffhausen, Walther Bringolf. Sie schreiben am 9. September 1939 nach Bern:

Dr. Wolf ist eine seit 35 Jahren in Stein am Rhein wohlbekannte Persönlichkeit, er schickt seine Tochter in Stein am Rhein zur Schule, hat für einen längeren Aufenthalt in der Schweiz genügend Subsistenzmittel, ist der Schwager des bekannten Architekten Niklaus Hartmann in St. Moritz und hat die grausamsten und brutalsten Rohheiten in seinem eigenen Hause und nachher im Konzentrationslager in Dachau erfahren müssen, so dass eine Wiedererwägung der Ausweisungsverfügung als Ausnahme genügend motiviert ist.

Während der Jahre des Dritten Reichs hat sich die Schweiz als Durchgangsstation verstanden und jüdischen Flüchtlingen jeweils nur kurzfristige Toleranz- oder Aufenthaltsbewilligungen zugestanden.

So wird auch Nathan Wolf, der schließlich bis zum Kriegsende in der Schweiz bleiben darf, über sechs Jahre hinweg immer nur im Zustand der kurzfristig gewährten Duldung leben.



Stein am Rhein

Stein am Rhein

Im April 1940 kommt es zu einer letzten persön­lichen Begegnung zwischen den Eheleuten; für vier Tage erlauben die Behörden Auguste Wolf den Grenz­über­tritt, bevor sie wieder zu ihren Kindern, der Schwägerin Selma und ihrer Schwiegermutter Nanette ins Haus der Familie nach Wangen zurückkehrt.

Ende September 1942, knapp vier Wochen nach dem Tod seiner Frau, übernimmt Nathan Wolf die Stellvertretung des erkrankten Ramsener Arztes Johann Fräfel. Eine Arbeitsaufnahme ohne fremdenpolizeiliche Bewilligung ist Emigranten streng verboten. Kontrolliert wird engmaschig und unerbittlich, und als Nathan Wolf die Vertretung ohne schriftliche Genehmigung antritt, laufen sofort umfangreiche Erhebungen an. Sie ergeben, dass eine mündliche Zusage des Schaffhauser Polizeidirektors Theodor Scherrer dem erforderlichen schriftlichen Bescheid vorgegriffen hat. Scherrer rechtfertigt sein Vorgehen nachträglich so:

Es lag laut unseren Erkundigungen ein schlüssiger Notfall vor, bei welchem im Interesse der Krankenfürsorge der Einwohner der gefährdeten Grenzgemeinden Ramsen und Buch rasch und entschlossen gehandelt werden musste. Schließlich sind auch die Emigranten dazu da, in Notfällen nützliche und praktische Arbeit zu verrichten, wenn dies im Landesinteresse gelegen ist.

Nathan Wolf darf also wieder arbeiten, er tut es gerne und erfolgreich. Wie sein Aufenthalt in der Schweiz, muss auch die Erlaubnis zur Vertretung des erkrankten Kollegen in engen Abständen wiederholt bewilligt werden. Seine Arbeitgeberin Rosa Fräfel stellt ihm noch im Dezember 1942 das beste Zeugnis aus: […] habe ich Herrn Dr. Wolf als einen sehr gewissenhaften, tüchtigen und pflichtgetreuen Arzt schätzen gelernt, der sich rasch die Zuneigung der Bevölkerung erworben hat.

Überraschend erfolgt dann am 5. Juni 1943 der Rauswurf; Johann Fräfel sendet einen knapp gefassten Hinweis an die eidgenössische Fremdenpolizei in Bern:

Teile Ihnen mit, dass ich Wolf Nathan, deutscher Staatsangehöriger, in Stein am Rhein, dem sie s. Z. in zuvorkommender Weise die Bewilligung zur Ausübung der ärztlichen Praxis als mein Stellvertreter, erteilt haben, plötzlich entlassen musste. Grund: Ungehörige Einmischung in meine Familienverhältnisse und Unfähigkeit, eine auch nur einigermaßen geordnete Buchhaltung zu führen, infolge ausgesprochener Morphinomanie. Ich betrachte daher die Wolf Nathan erteilte Bewilligung als erloschen.

Seitens der Behörden besteht kein Interesse daran, die Hintergründe dieser Beschuldigungen aufzuklären; die Polizeibehörden von Kanton und Bund entziehen dem Exilanten seine Arbeitserlaubnis mit sofortiger Wirkung.



 
Nathan Wolf an seine Kinder, Brief vom 11. März 1943

Nathan Wolf an seine Kinder, Brief vom 11. März 1943

Nathan Wolfs Stimme vernehmen wir während dieser Monate nur einmal. Im März 1943 schreibt er an seine Kinder, die inzwischen unter der Aufsicht der Dienstmädchen Ida und Stefane in Wangen leben. Der Arzt, der die Woche über als Hausgast der Familie Fräfel in Ramsen wohnt, schreibt auf dem Briefpapier seines Kollegen.

Ramsen, den 11. März spät abends 1943

Meine lieben Kinder, ich bin sehr traurig, dass ich von Euch nun eine ganze Woche lang nichts mehr gehört habe, aber auch darüber, dass ich Euch selbst seit Sonntag nicht mehr geschrieben habe oder besser gesagt, nicht mehr schreiben konnte. Ich hatte so viel Arbeit […]

Wie froh wäre ich diese Wochen schon gewesen, wenn ich Euch bei mir gehabt hätte. Gewiss geben sich Clem und Selma alle Mühe, mir es erträglich zu machen und sind in jeder Beziehung sehr aufmerksam gegen mich, wenn ich am Samstag abend zu ihnen komme und über den Sonntag bleibe, aber das alles kann mir Euch nicht ersetzen, Euch nicht und unsere gute Mutti nicht, und da sie leider Gottes hat gehen müssen, als eines der vielen Opfer dieser furchtbaren Zeit, habe ich ja nur noch Euch, und Ihr seid mir ja so fern, als wenn ihr in einem anderen Erdteil wohntet.


 

Nathan Wolf an seine Kinder, Brief vom Ostersamstag 1944

Nathan Wolf an seine Kinder, Brief vom Ostersamstag 1944 

Die folgende Passage aus seinem Brief vom Ostersamstag 1944 illustriert, wie Nathan Wolf Informationen über die prekäre Lage Nazi-Deutschlands an der Zensur vorbeischmuggelt: während es sich bei Onkel Emil um seinen leibhaftigen Schwager und damit um einen echten Onkel seiner beiden Kinder handelt, steht »Onkel Martin« für Nazi-Deutschland, dem der Briefschreiber recht unverhohlen das baldige Ableben wünscht:

Onkel Emil ist seit Mittwoch auch hier, aber doch noch ziemlich schwach und kann sich nur schlecht bewegen, er liegt meist auf der Chaiselongue hier im Wohnzimmer und setzt sich zum Essen mit an den Tisch, sieht noch recht schlecht aus, aber ist geistig wieder ziemlich auf der Höhe, nur klingt seine Stimme noch recht matt. Onkel Martin geht es kaum besser, aber während Emil sich wieder erholen wird, gebe ich und natürlich auch die ihn behandelnden Spitalärzte ihm keine Chancen, nur sein Herz scheint noch einigermaßen gut zu sein, so dass er immerhin noch einige Monate sein trauriges Dasein ertragen muss, […]


 

Nathan Wolf vor dem Schweizer Untersuchungsrichter Hauptmann Schmid,
Einvernahmeprotokoll vom 5. Juli 1943. Bundesarchiv Bern [E 5330, 1975, 95, 1943, Nr. 2045]

Im Herbst 1943 steht Nathan Wolf vor einem Schweizer Militär­gericht, angeklagt der Flucht­hilfe. Gemeinsam mit anderen hat er einer Jüdin aus Berlin, Lotte Kahle, zur Flucht über die grüne Grenze in die Schweiz ver­holfen und ihr so das Leben gerettet. Für die Behörden gilt er damit als »Emigrantenschlep­per«. Er hat gegen die Gesetze seines Gastlandes verstoßen und wird vor das Territorialgericht zitiert.
Die umfangreichen Prozessakten im Berner Bundesarchiv umfassen Verhöre der Angeklagten, Vorstrafen- und Leumunds-Berichte, Auszüge aus dem Zentralstrafenregister, handgeschriebene Lebensläufe und einen Haftbefehl. Während Nathan Wolf sich zur Zeit der Voruntersuchung in Stein am Rhein noch frei bewegen darf, sitzt sein »Komplize« Johann Seemann bereits im Schaffhauser Gefängnis in Untersuchungshaft.
In seinem Verhör vor Untersuchungsrichter Schmid macht Nathan Wolf deutlich, dass es sich bei ihm in keinem Fall um einen Wiederholungstäter handle:

Ich bestreite entschieden, dem Beschuldigten Seemann zugemutet zu haben, dass er sich grundsätzlich zu solchen Grenzschleppereien zur Verfügung halte. Das ganze war ja auch für mich etwas einmaliges und ich wusste auch keinen weiteren Fall. […]

Ich bedaure, dass ich dadurch mich meinem Gastlande gegenüber vergangen habe. Ich habe eben, wie schon gesagt, meine rechtlichen Bedenken durch menschliche Gefühle in mir zurückdrängen lassen.


Im September 1943 kommt es zum Prozess in Zürich.

Die Richter sprechen beide Angeklagten schuldig: Nathan Wolf des Ungehorsams gegen allgemeine Anordnungen und der Anstiftung hiezu, Johann Seemann des Ungehorsams gegen allgemeine Anordnungen. Sie werden jeweils zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt werden.
Damit nicht genug der Strafe. Die Behörden auf beiden Seiten des Rheins maßregeln Nathan Wolf in zwei fast zeitgleich ablaufenden Reaktionen viel härter, als es dieses Urteil vermuten ließe – seine Kinder müssen das Grenzgebiet Ende Juni 1943 verlassen, er selbst wird im August interniert.


Interniertenheim Schloss Burg Postkarte Nathan Wolfs an seine Kinder vom 28. September 1943

Interniertenheim Schloss Burg
Postkarte Nathan Wolfs an seine Kinder vom 28. September 1943

Nathan Wolf vor der Post in Leysin  Postkarte an die Kinder vom 28. März 1944

Nathan Wolf vor der Post in Leysin
Postkarte an die Kinder vom 28. März 1944

 
»Mein Bett ist das letzte an der Wand, so sehr vertraut bin ich, …«  Nathan Wolf an seine Kinder, Leysin 1944

»Mein Bett ist das letzte an der Wand, so sehr vertraut bin ich, …«
Nathan Wolf an seine Kinder, Leysin 1944

Bis zu seinem Tode wird Nathan Wolf über sein Engage­ment als Fluchthelfer nicht sprechen; seine Kinder erfahren davon erst Jahr­zehnte später durch die Forschungs­arbeit des Schweizer Historikers Franco Battel.


 
1999 veröffentlicht Lotte Strauss ihre Lebenserinnerungen bei Fordham University Press, New York.

1999 veröffentlicht Lotte Strauss ihre Lebenserinnerungen bei Fordham University Press, New York.

 
Widmung von Lotte Strauss, Mai 2005

Widmung von Lotte Strauss, Mai 2005

Im Mai 2005 trifft Hannelore Wolf, verheiratete König, Lotte Kahle, verheiratete Strauss, in New York. Sie erinnert sich:

Dort trafen wir uns am 17. Mai 2005, sie 91 und ich 79 Jahre alt; sie eine kluge, lebhafte, gutaussehende Dame mit spontaner Herzlich­keit. Lotte Strauss, die ich im Mai 2006 ein weiteres Mal in New York besuchte, schenkte mir ihr Buch, »Over the green hill«, in dem sie ihre Verfolgung und Rettung schildert. Als Widmung schrieb sie hinein »Der Tochter des Mannes, der wusste, wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt«. Nach über 60 Jahren treffen sich die Tochter des Retters und die Gerettete! Ich kann gar nicht sagen, was diese Begegnung für mich bedeutet hat.    

Das Urteil gegen Johann Seemann und Nathan Wolf wird im September 2004 von der Rehabilitierungskommission der Schweizer Bundesversammlung aufgehoben. In der Begründung dieses Entscheides heißt es:

Die Aufhebung aller Strafurteile wegen Fluchthilfe erfolgte, weil diese Urteile aus heutiger Optik als schwerwiegende Verletzung des Gerechtigkeitsempfindens betrachtet werden. Insoweit wird der seit den Urteilssprüchen eingetretenen Entwicklung und den seither veränderten Auffassungen, insbesondere auch der Rechtsentwicklung im Bereich des Grundrechtsschutzes Rechnung getragen.

 
 
Trauerkarte von Lotte Strauss zum Tod von Dieter König, 2014

Trauerkarte von Lotte Strauss zum Tod von Dieter König, 2014