Luftbild vor 1938, die Synagoge ist das Gebäude ganz rechts am Seeufer (Bildrechte. H. Sting, Kunstanstalt Tübingen. Luftbild Nr. 12.6139)

Luftbild vor 1938, die Synagoge ist das Gebäude ganz rechts am Seeufer
(Bildrechte. H. Sting, Kunstanstalt Tübingen. Luftbild Nr. 12.6139)


 

Familie Wolf

 
 
Wangen am See, Hauptstraße. Das Haus der Familie Wolf in der Bildmitte links, rechts daneben die ehemalige jüdische Schule. (Dt. Luftbild KG, Hamburg-München, Freigabe Nr. 405 275)

Wangen am See, Hauptstraße. Das Haus der Familie Wolf in der Bildmitte links, rechts daneben die ehemalige jüdische Schule.
(Dt. Luftbild KG, Hamburg-München, Freigabe Nr. 405 275)

Mehr als drei Jahrhunderte lang lebten Juden in Wangen, dem idyllisch am westlichen Ausläufer des Bodensees gelegenen Dorf auf der Höri. Spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts gab es eine jüdische Gemeinde mit einer Synagoge am Ufer des Sees, die Anfang des 19. Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebte. In den Jahrzehnten nach 1862, als die Juden in Baden durch das Toleranz-Edikt Großherzog Friedrichs I. anderen Bürgern rechtlich gleichgestellt wurden, verließen die meisten jüdischen Einwohner Wangens ihr Heimatdorf freiwillig. Der Bildung halber, auf die sie anders als die meisten ihrer bäuerlichen Nachbarn großen Wert legten, zogen sie in die umliegenden Städte, wo sie ihre Kinder aufs Gymnasium schickten, um ihnen später eine akademische Laufbahn zu ermöglichen.

 

Nanette Wolf mit ihren Kindern vor dem Haus der Familie, von links:
Bertel, Nathan, Wilhelm, Regine, Selma, Clem, Eugenie und Nanette
ca. 1895/96


 
Jacob Picard, gezeichnet von Walter Waentig

Jacob Picard, gezeichnet von Walter Waentig

Jacob Picard, der in Wangen geborene Chronist des Landjudentums, erinnert in seinem Werk an die Glaubensbrüder früherer Generationen und ihr glückliches Leben im Heimatdorf:
»Frei unter der anderen, christlichen Bevölkerung wohnend, schlossen sich diese Landjuden in kleinen und kleinsten Gemeinden zusammen, streng gesetzestreu bis in unsere Tage lebend, aber ebenso fest und treu wie dem jüdischen Gesetz waren sie der Erde verbunden, die sie bebauten und als Händler durchwanderten, sich selber und ihre Bräuche achtend wie die Bräuche der christlichen Landbevölkerung, die deshalb auch wieder diese Juden und ihre Bräuche achtete.«

 
Das jüdische Ehepaar Ludwig und Nanette Wolf ist mit Kinderreichtum gesegnet. Acht ihrer 17 Kinder erreichen das Erwachsenenalter.

Das jüdische Ehepaar Ludwig und Nanette Wolf ist mit Kinderreichtum gesegnet. Acht ihrer 17 Kinder erreichen das Erwachsenenalter.

Die Familie Wolf ist eine dieser alteingesessenen jüdischen Familien des Dorfes. Nanette Wolf, geborene Picard, Mutter einer imponierenden Kinderschar und ihr Mann Ludwig, »Levi« Wolf, Viehhändler und Vorsteher der jüdischen Gemeinde, gelten weithin als geschätzte und respektierte Bürger ihrer Heimatgemeinde. Ihren erstgeborenen Sohn Nathan schicken sie in Konstanz aufs Gymnasium, während seine Schwestern die Realschule in Stein am Rhein oder aber ein Pensionat besuchen. Auch wenn Familiengründung oder Berufstätigkeit die meisten Töchter später in die Ferne führen: Wangen am See bleibt über die Jahrzehnte hinweg die Heimat der ganzen großen Familie.


Nanett_Wolf_Kinder.jpg

Die 17 Kinder der Nanette Wolf
Nanette Wolf hat in den Jahren von 1875–1897 – also über 22 Jahre hinweg – 17 Kinder zur Welt gebracht; von diesen 17 Kindern sterben 9 bereits bei der Geburt, als Säuglinge oder im Kleinkindalter.


 
Großherzog Friedrich I. von Baden und Großherzogin Luise

Großherzog Friedrich I. von Baden und Großherzogin Luise

Patriotische Gefühle

Im Wohnzimmer meiner Großeltern hing ein schönes Porträt vom badischen Großherzog Friedrich I. und der Großherzogin, die die Tochter vom späteren Kaiser Wilhelm I. war; im Treppenhaus hingen Bilder der kaiserlichen Familie. Eine Schwester meines Vaters hatte ein Sofakissen gestickt, darauf stand: »Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot«, und auf das Kissen war die Fahne gestickt. Zur Familie des Großherzogs hat man eine Zuneigung empfunden, eine herzliche Zuneigung, weil das ein sehr liberaler Mann war, während man vor dem Kaisertum vielleicht eher Achtung hatte.
Hannelore König


Nathan, Clem und Wilhelm Wolf

Nathan, Clem und Wilhelm Wolf

Drei Geschwister vor einem frühen Lichtbild-Automaten: Nathan, Clem und Wilhelm Wolf schauen erwartungsvoll in die Zukunft.


Regine und Jakob Picard auf ihrem Hochzeitsbild

Regine und Jakob Picard auf ihrem Hochzeitsbild

Regine und Jakob Picard mit ihren beiden erstgeborenen Söhnen Hermann und Leo

Regine und Jakob Picard mit ihren beiden erstgeborenen Söhnen Hermann und Leo

Die älteste Schwester war die Regine, die war eine sehr Hübsche, sie hat ganz jung geheiratet, den Jakob Picard, der auch ein sehr gut aussehender Mann war. Das war eine richtige Liebesheirat. Als junge Frau war die Tante Regine in einer Pension, zur Bildung, also um Französisch zu lernen und ein bisschen Malen und was so dazugehört. Ich hab die Tante Regine nur als alte Frau erlebt in hochgeschlossenen Kleidern mit langen Ärmeln, immer sehr gut angezogen.
Hannelore König


Selma Wolf, 1908

Selma Wolf, 1908

Selma Wolf, 1909

Selma Wolf, 1909

Als nächste kam die Tante Selma, die nur ein Jahr älter war als mein Vater. Sie hat hier die ganze Volksschule gemacht, also 8 Jahre. Dann hat man sie nach Konstanz zu den Schwestern getan, in die Mädchenschule im Kloster Zoffingen, da hat sie Klavierspielen gelernt und Handarbeiten, das konnte sie sehr gut. Und sie hat auch ein bisschen Literatur vermittelt bekommen. Die Mädchen wurden damals ja dazu erzogen, geheiratet zu werden, auch die jüdischen Mädchen. Verheiratet zu sein, das war das Ziel.

Die Tante Selma blieb immer bei den Großeltern und hat oben in einer Dachkammer geschlafen, in einem sehr einfachen Schlafraum, mit einem Bett und einem Schrank und einem Waschtisch. Nach dem Tod des Großvaters hat die Tante Selma im selben Zimmer wie die Großmutter geschlafen. Sie konnte sehr gut kochen. Und sie ist viel spazieren gegangen, auf die Bauernhöfe rauf, sie kannte alle Leute. Das Fräulein Selma war schon so eine Einrichtung im Dorf.
Hannelore König

Die 1881 geborene Tochter Selma bleibt unverheiratet und wohnt zeitlebens im Elternhaus.


Nathan Wolf als hochdekorierter Frontoffizier im Ersten Weltkrieg, ca. 1917

Nathan Wolf als hochdekorierter Frontoffizier im Ersten Weltkrieg, ca. 1917

Nathan Wolf nach seiner Rückkehr aus dem KZ Dachau, 1938

Nathan Wolf nach seiner Rückkehr aus dem KZ Dachau, 1938

Nathan Wolf ist eine der beiden Hauptfiguren dieser biografischen Annäherung an die Familie Wolf.

Mein Vater ist am 19. Mai 1882 hier in Wangen geboren. Er hatte zwei ältere Schwestern, Regine und Selma, einen jüngeren Bruder Wilhelm und vier jüngere Schwestern: Clementine, Eugenie, Bertel und Alice. Also eine sehr große Familie.
Hannelore König


Eugenie und Josef Zivi

Eugenie und Josef Zivi

Eugenie und Josef Zivi in Wangen, nach ihrer Rückkehr aus dem Exil

Eugenie und Josef Zivi in Wangen, nach ihrer Rückkehr aus dem Exil

Die 1883 geborene Eugenie heiratet den jüdischen Lehrer Josef Zivi, den sie in Wangen kennengelernt hat. Während der NS-Zeit emigrieren die beiden wie ihre Töchter Else und Trudel nach Palästina, werden dort aber nicht glücklich; 1951 kehren sie nach Wangen zurück.

Die Tante Eugenie hat relativ früh den Lehrer Zivi geheiratet. Josef Zivi war der jüdische Unterlehrer in Wangen. Dann sind sie nach Gailingen gezogen, da war er dann der Oberlehrer, und sie haben zwei Töchter gehabt, eine Else und eine Trudel.  Die Else ist etwa 1934 mit ihrem Mann nach Palästina ausgewandert und ist dort nach ein paar Jahren an Typhus gestorben. Als die Tante Eugenie und der Onkel Josef schließlich 1939 ausgewandert sind, war die Else schon tot, und sie haben sich sehr unglücklich gefühlt, auch weil das Klima so schwierig war. Die Tante Eugenie konnte kein Hebräisch, während der Onkel Josef das alles sehr rasch gelernt hat, auch das moderne Hebräisch und sich dann mit Stundengeben über Wasser halten konnte.
Hannelore König


Clem Neu … mit ihren Ziehkindern

Clem Neu … mit ihren Ziehkindern

Clem Neu mit ihrem Mann Emil Neu

Clem Neu mit ihrem Mann Emil Neu

Klementina Wolf wird 1886 geboren und erhält den Kosenamen Clem; sie absolviert eine Ausbildung als Erzieherin und heiratet nach dem Ersten Weltkrieg den verwitweten Textilfabrikanten Emil Neu aus Offenburg. Für seine drei Kinder aus erster Ehe – Erwin, Alice und Erich – wird sie zur geliebten Mutter.

Die Tante Clem war meine Lieblingstante, ich hatte eine sehr enge Beziehung zu ihr, weil ich da so oft in Ferien war. Sie war eine gescheite, kluge Frau, engagiert in vieler Beziehung. Sie hat auf eigene Kinder verzichtet, nachdem sie den Emil Neu geheiratet und dessen drei Kinder angenommen hat. Sie wollte keine zwei Sorten Kinder haben, diese drei angenommenen Kinder, das waren ihre Kinder.
Hannelore König


 
Wilhelm Wolf stirbt von eigener Hand

Wilhelm Wolf stirbt von eigener Hand

Bruder Wilhelm (*1887) ist der Unglücksrabe der Familie. Nachdem er des Schmuggels bezichtigt wird, legt er Hand an sich und stirbt im März 1920.

Ich weiß gar nicht genau, an welcher Stelle der Geschwisterreihe der Bruder Wilhelm steht. Soviel ich weiß, hat er sich umgebracht. Er war jünger als mein Vater und hat Kaufmann gelernt, ist also auch auf die höhere Schule gegangen. Der Wilhelm war so ein Tabu-Thema, darüber hat man nicht gesprochen. Er liegt oben auf dem jüdischen Friedhof, da stehen seine Lebensdaten. Meine Großmutter hat ihr Leben lang sehr um ihn getrauert. Dass er sich das Leben genommen hat, habe ich erst sehr viel später erfahren.
Hannelore König


 
Mondäne Tante: Bertel Hartmann mit ihrem Neffen Gert in St. Moritz

Mondäne Tante: Bertel Hartmann mit ihrem Neffen Gert in St. Moritz

Bertel wird 1890 geboren; auch sie durchläuft eine Ausbildung als Gouvernante. Im Zug begegnet sie dem Bündner Architekten Nicolaus Hartmann, der neben weiteren bedeutenden Bauten im Engadin das Segantini-Museum in St. Moritz errichtet hat. Ihre romantische Liebesgeschichte mündet in eine späte Ehe.

Die Tante Bertel war aber auch eine aparte Frau. Sie trug lange Kleider aus weißem Chiffon mit Tupfen drauf und einen Florentinerhut. Sie war anders als ihre Schwestern, absolut selbstständig, und sie hat immer gemacht, was sie wollte. Schon mit 18 ist sie von zuhause weg. Sie hatte etwas so Strahlendes und Warmherziges, dass man ihr eigentlich gar nichts übel nehmen konnte. Sie hat das einfach für sich in Anspruch genommen: Ich mache, was ich will. Sie hat immer gearbeitet und ihren Lebensunterhalt selbst verdient.
Hannelore König


 
Alice Wolf

Alice Wolf

Nesthäkchen ist die jüngste Tochter Alice, die erst 1897 zur Welt kommt. Sie landet auf dem Hofgut Holdenweid bei Basel, wo sie die drei Töchter des Rechtsanwalts Dr. Frikker erzieht. Anders als bei ihrer Schwester Clem endet dieses Engagement für die Kinder nicht in einer Ehe.

Die Alice ist 1897 geboren. Sie war also ein Nachkömmling, eine heiß geliebte Hübsche, die von der ganzen Familie verwöhnt wurde. Sie ist jedenfalls von der Inflation voll getroffen worden, denn als sie ein bisschen älter war, war das Geld in unserer Familie weg. Also ist sie auch Hausdame oder Erzieherin geworden – das haben sie ja alle gemacht: die Bertel, die Clem, die Alice – oder wie man damals gesagt hat: Gouvernante.
Hannelore König