Lebenslinien

 
 

Als sich die drei Freunde für dieses Bild am Seeufer in Wangen im Jahr 1960 zusammenfinden, haben sie ihre Lebensleistung weitgehend erbracht. Alle drei sind Juden, alle drei stammen aus dem kleinen Dorf am Untersee, aber nur Nathan Wolf lebt noch dort. Dass dies so ist, verdankt sich vor allem seinem entschiedenen Entschluss. Sein Jugendfreund, der Dichter Jacob Picard, ist zum Amerikaner geworden, dessen Herz noch immer in Wangen schlägt. Wenige Jahre später wird Picard an den Bodensee zurückkehren, er stirbt 1967 in Konstanz. Der Jüngste im Bunde, Nathan Wolfs Neffe Leo Picard, ist Jahrgang 1900 und Sohn seiner älteren Schwester Regine. Zu jung für die Teilnahme am ersten Weltkrieg, gerade alt genug für die reichliche Sammlung antisemitischer Erfahrungen, entscheidet Leo Picard sich früh für den Zionismus und geht schon 1924 ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina, wo er das Geologische Departement an der eben entstehenden Hebräischen Universität in Jerusalem aufbaut.

Worüber werden sie an diesem Tag gesprochen haben?


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Nathan Wolf schreibt (s)einen Lebenslauf, Sommer 1943.
Schweizerisches Bundesarchiv Bern, E 5330, 1975/95. 1943, Nr. 2045.

Auch Lebensläufe zeichnen Lebenslinien nach.

Im Sommer 1943 steht Nathan Wolf vor dem Schweizer Territorialgericht, der Fluchthilfe angeklagt. In dieser Situation und offenkundig auf Aufforderung des Untersuchungsrichters Hauptmann Schmid schreibt er seinen Lebenslauf. Im Anschreiben benennt er seine Motivation und begründet die Fokussierung auf die Kriegserlebnisse – sozusagen von Offizier zu Offizier:

Ich wollte damit keine Gloriole um mich winden, sondern nur die Discrepanz aufzeigen zwischen Verdienst und Behandlung, anderseits dachte ich, dass Sie sich als Offizier für Kriegserlebnisse interessieren, die trotz ihrer für einen Lebenslauf breiten Schilderung nur ein Gerippe darstellen. Es bleibt mir noch übrig, Ihnen für Ihre ritterliche Einvernahme höflichst zu danken.
Ihr sehr ergebener Dr. Wolf

Und so bildet er in diesem Lebenslauf die letzten zweieinhalb Jahrzehnte ab:

Nach Ausheilung meiner Malaria tropica ließ ich mich im Juni 1919 in Wangen als praktischer Arzt nieder; später gründete ich die Kleinkaliberschützenvereine am Untersee und wandte mein Interesse der Ertüchtigung der Jugend zu, als Gauschwimmwart förderte ich vor allem das Schwimmen und nahm selbst an allen Wettkämpfen bis über mein 50. Lebensjahr hinaus teil. Politisch betätigte ich mich in der Deutschen Volkspartei, deren Landesausschuss ich angehörte. So galt neben meiner Familie, meiner Praxis und der Betreuung der Armen meine ganze Arbeit dem Vaterland und dem Allgemeinwohl. Als im Jahre 1933 die Ortsgruppe Konstanz geschlossen zur N.S.D.A.P. übertrat, wurde vonseiten der Ortsgruppe zur Bedingung gemacht, dass mir nichts geschehen dürfe, welche Verpflichtung der damalige Kreisleiter auch eingegangen ist. Und so blieb meine Person bis zur Versetzung des obersten Parteileiters und des Vorstandes des Bezirksamtes sacrosankt. Umso schlimmer war dann im Jahre 1938 der Überfall der S.S., dieser dressierten Bestien, die Menschenwürde und persönliche Freiheit buchstäblich mit Füßen traten; Koncentrationslager und Gefängnis taten ihr Übriges. Dank meiner tapferen Frau Auguste, der Tochter des noch lebenden Verwaltungsdirektors Neuhaus der Stadt Köln, die inzwischen aus Gram und Sorgen und infolge elender Verpflegung in einer öffentlichen Heilstätte – die Aufnahme in ein Privatsanatorium wurde ihr seitens der Partei nicht gestattet – gestorben ist, konnte die Haushaltung mit den beiden Kindern, aufrecht erhalten werden, auch Haus, Ökonomiegebäude, landwirtschaftliche Güter und Wald blieben im Besitz meiner seligen Frau bzw. der Kinder. Mit dem vor wenigen Tagen seitens der Partei veranlassten Wegzug meiner Kinder aus dem Grenzgebiet ist nun alles ausgelöscht. In Stein am Rhein, womit mich seit frühester Jugend Freundschaften verknüpfen, bin ich seit Ende August 1939; hier liegt auch meine Mutter begraben, die im Jahr 1940 im Alter von 87 Jahren aus ihrer Heimat nach Südfrankreich vertrieben wurde und nach einem 1/2 Jahr dauernden Lageraufenthalt in wohlwollendster Weise von der Stadt Stein aufgenommen wurde, von wo sie noch einmal einen Blick nach ihrer alten Heimat und ihren Enkeln tun durfte. Die Gastfreundschaft, die sie und ich genießen durften, werde ich nie vergessen.

 

Nathan Wolf meditiert über sein Leben, vermutlich 1967.
Handschriftlicher Lebenslauf, eingelegt in Kriegstagebuch I

Etwa zweieinhalb Jahrzehnte später denkt Nathan Wolf ein weiteres Mal über sein Leben nach; auch diesmal entsteht daraus ein Dokument, das sich im Privatarchiv der Familie erhalten hat. Seinen nicht datierten Lebenslauf notiert der alte Herr auf einer Konzern-Gewinn- und Verlustrechnung der August Thyssen-Hütte für das Jahr 1966; offensichtlich steht seine Rekapitulation des eigenen Lebens im Zusammenhang mit der erneuten Lektüre seines Kriegstagebuchs. Vielleicht kann man so erklären, dass auch in dieser Erinnerung eigenen Lebens das Thema Krieg und Verfolgung breiten Raum einnehmen, während dessen private Begleitumstände – die Tatsache, dass es Frau und Kinder gegeben hat – nicht einmal gestreift werden.

Die letzten 30 Jahre fasst Nathan Wolf in sechs Textzeilen so zusammen:

Kurz vor Ausbruch des Krieges ins Exil nach Stein am Rhein, wo ich viele Bekannte und Freunde hatte. In der Schweiz Vertretungen, später als Lagerarzt in den Flüchtlingslagern. Nach Kriegsende sofort in die Heimat zurück. Mit Freude und mit Tränen in Öhningen und in meiner Heimat empfangen, war es der schönste Tag meines Lebens. Bald war ich Bürgermeister und konnte dank meiner französischen Sprachkenntnisse manches Unheil für die Gemeinde abwenden. Später war ich 20 Jahre stellvertretender Bürgermeister.

Möglich, dass auch der letzte Textschnipsel zeitgleich mit dem eben zitierten Lebenslauf entstanden ist. »Aus meiner zukuenftigen Biographie« übertitelt Nathan Wolf die kurze Kriegserinnerung, die er am 1. März 1967 in die Schreibmaschine tippt. Er weiß schon, dass sein Leben wert wäre, erzählt zu werden. Und er weiß auch, dass er selbst nicht mehr derjenige sein wird, der diese Geschichte in Form bringen wird. Er ist 84 Jahre alt.

»Aus meiner zukuenftigen Biographie« Angefangenes Typoskript Nathan Wolfs, vom 1. März 1967, das heute im Leo Baeck Institute in New York aufbewahrt wird.

»Aus meiner zukuenftigen Biographie«
Angefangenes Typoskript Nathan Wolfs, vom 1. März 1967, das heute im Leo Baeck Institute in New York aufbewahrt wird.

 

Am 19. Dezember 1962 berichtet der Südkurier aus Wangen

Am 19. Dezember 1962 berichtet der Südkurier aus Wangen

Orden und Ehrenzeichen haben für Nathan Wolf zeitlebens eine bedeutende Rolle gespielt. Aus Anlass seines 80. Geburtstages wird er im Dezember 1962 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. In der Einschätzung seiner Verdienste hebt Bürgermeister Schnur insbesondere auf die Versöhnungsbereitschaft von Nathan Wolf ab: »Besondere Anerkennung und Dank verdient Dr. Wolf dafür, daß er nach Rückkehr aus der Emigration sich keinerlei Rachegefühle anmerken ließ, in der damaligen Situation sogar manchem geholfen hat, den Gemeindefrieden wieder herzustellen.«

Ehrende Worte im Rathaus: Bürgermeister Max Schnur würdigt Nathan Wolf.  In der Mitte Regierungspräsident Anton Dichtel

Ehrende Worte im Rathaus: Bürgermeister Max Schnur würdigt Nathan Wolf.
In der Mitte Regierungspräsident Anton Dichtel

Ähnlich sieht es auch Regierungspräsident Anton Dichtel, der Nathan Wolf den Orden an die Brust heftet. Der Südkurier berichtet: »Regierungspräsident Anton Dichtel hielt eine packende, von menschlicher Wärme und tiefem Mitfühlen erfüllte Ansprache, mit der er einen Abriß gab von alledem, was den Bundespräsidenten veranlaßt hatte, die hohe Auszeichnung zuzuerkennen. Der Freiburger Regierungspräsident betonte Dr. Wolfs Leistung als Arzt bis in sein hohes Alter hinein […] Insbesondere in den Tagen der Not habe Dr. Wolf vorbildliche Liebe und Treue zu seinem Volk bewiesen. Was hätte ihm näher gelegen, fragte Regierungspräsident Dichtel, nach 1945 noch in der Schweiz drüben zu bleiben? Statt dessen sei Dr. Wolf, ohne Haß und Rachegefühl, ohne Vergeltung zu üben, gekommen, habe geholfen, wo er konnte. Zeitlebens habe Dr. Wolf sich für kommunale Dinge interessiert, betonte Dichtel, als er die Tätigkeit von Dr. Wolf im Gemeinderat vor 1933 und nach 1945 erwähnte.«

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Dankesworte des Ehrenbürgers, abgedruckt im Südkurier vom 10. Februar 1966.

Dankesworte des Ehrenbürgers, abgedruckt im Südkurier vom 10. Februar 1966.

Im Februar 1966 wird Bürgermeisterstellvertreter Nathan Wolf dann aus Anlass seines Ausscheidens aus dem Gemeinderat im stolzen Alter von 85 Jahren zum Ehrenbürger seiner Heimatgemeinde ernannt.

 

Bürgermeister Max Schnur ernennt Nathan Wolf zum Ehrenbürger von Wangen.


 
Die Zukunft im Blick: Nathan Wolf an seinem 86. Geburtstag im Mai 1968 zusammen mit seinem Enkel Justus.

Die Zukunft im Blick: Nathan Wolf an seinem 86. Geburtstag im Mai 1968 zusammen mit seinem Enkel Justus.

Nathan Wolf, praktischer Arzt und Geburtshelfer, Mai 1968

Nathan Wolf, praktischer Arzt und Geburtshelfer, Mai 1968


Als Nathan Wolf im Dezember 1970 noch kurzem Krankenlager stirbt, erhält er ein Begräbnis der Extraklasse. Sein Sarg wird vor dem Rathaus aufgebahrt, sein Freund Franz Schürholz vergegenwärtigt die Begräbnisfeierlichkeiten im Südkurier so:

»Vielleicht war es neben der engen menschlichen Verbundenheit der örtlichen Bevölkerung mit ihrem verstorbenen Bürger auch ein Widerstandswille gegen die Flut des Vergessens, daß am Tage der Beerdigung ganze Straßen gesperrt werden mußten, um ein Teilnehmen der vielen Vereine und Einzelpersonen an der Abschiedskundgebung vor dem Wangener Rathaus zu ermöglichen. Bundes- und Landtagsabgeordnete, Vertreter der Berufsverbände und Nachbargemeinden, der Musik- und Gesangvereine und auch der katholische Pfarrer, sein Duzfreund, waren erschienen. Wie viele Erinnerungen tauchten da in den zahlreichen Ansprachen auf! Wer es noch nicht wusste, konnte jetzt erfahren, wer das denn war und was er bedeutete: Der unermüdliche Arzt und Geburtshelfer, der Gemeinderat, auch Bürgermeister, das Ehrenmitglied des Hegau-Geschichtsvereins, der Musik- und Vereinsförderer, der Turner und Eisläufer, der großzügige Stifter, der Demokrat und Patriot, der mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse 1917 Ausgezeichnete, dem es trotzdem nicht erspart blieb, die Schande des Konzentrationslagers ertragen zu müssen. Wahrlich, das Abschiedslied vom ›Guten Kameraden‹ trug den nachdenklichen Zug der Trauernden zum hochgelegenen jüdischen Friedhof, wo die von seinem Neffen Walter Picard aus Zürich mit bewegter Stimme vorgetragenen Psalmen den Sarg in die Erde begleiteten.«

 

Alfred Wallach, Nachruf auf Nathan Wolf.
In: American Jewish KC Fraternity, Februar 1971, S. 11
[KC = Kartell-Convent, Korporationsverband der schlagenden jüdischen Studentenverbindungen, dem auch die die Ghibellinia Freiburg angehörte, in der sich Nathan Wolf während seiner Freiburger Studienjahre engagierte]

Nachruf auf Nathan Wolf im Südkurier, 5. Januar 1971

Nachruf auf Nathan Wolf im Südkurier, 5. Januar 1971

 
 

 
Das Grab Nathan Wolfs auf dem Jüdischen Friedhof Wangen.

Das Grab Nathan Wolfs auf dem Jüdischen Friedhof Wangen.